Aus meinem Buchregal – Wieder entdeckt und für gut befunden:

Gabriele Heise


Aus meinem Buchregal –

Wieder entdeckt und für gut befunden:

Helmut Saiger

Kontakte statt Kulisse – Miteinander gut leben statt nur viel haben

Freiburg 2010

Der Griff ins Buchregal überraschte mich selbst. Das Buch von Helmut Saiger ist bereits elf Jahre alt, aber so aktuell wie wenige. Es passt wunderbar in unsere Corona-Tage. Der erzwungene Stillstand wirft uns auf Fragen zurück, die uns leicht verloren gehen. Womit verbringe ich meine Zeit? Was ist mir wirklich wichtig? Welche sozialen Kontakte habe ich? Auf wen kann ich mich verlassen? Mit wem bin ich befreundet und vertraut? Und wo lebe ich in einer Kulissen-Landschaft, in der ich immer unlebendiger werde?

Für ihn ist es eine Kulisse, wenn das Haben wichtiger ist als das Sein. Wenn wir uns mit Dingen und Statussymbolen umgeben, die unseren sozialen Abstand demonstrieren sollen und nicht die Wärme und Geselligkeit anderer Menschen suchen. In solchen Kulissen sind wir oft sehr allein. „So wenig Gemeinschaft war selten“, ist seine Diagnose der Gegenwart.

Die Corona-Tage haben uns oft schmerzhaft fühlen lassen, dass wir zu wenig menschliche Nähe haben – nicht nur, weil Quarantäne herrscht. Der Mangel an dieser Nähe entsteht zum einen aus unseren eigenen Prioritäten, mit denen wir unsere Lebenszeit füllen. Der Mangel entsteht aber auch, weil wir in sozialen Systemen zu Hause sind, in Wohlstandskulissen, die uns von anderen Menschen trennen.

Saiger konzentriert sich in seinem Buch auf den ersten Aspekt, also darauf, wie wir selbst dazu beitragen, persönliche Kontakte zu verhindern, und darauf, was alles möglich wäre, sie neu anzureichern. Häufig hält uns die Angst zurück, enttäuscht zu werden, zurückgewiesen zu werden und Bequemlichkeiten aufzugeben. Das führt in emotionale Sackgassen. Er ermutigt dazu, so viele gemeinsame Tätigkeiten und Begegnungen mit anderen Menschen im eigenen Alltag einzuplanen, wie es möglich ist. „Die Basis einer jeden Kontakt- Gesellschaft sind die Gemeinschaften und Kontaktnetze der Bürger.“

Die persönliche Fähigkeit, Kontakte gewinnbringend zu gestalten, ist ihm ein ganzes Kapitel wert. Wie höre ich richtig zu? Wie gebe ich gutes Feedback? Welche Konflikte nehme ich in Kauf, weil sie eine Chance sind, einen anderen Menschen besser kennen zu lernen? Wie lobe ich Menschen und mache sie glücklicher? Wie mache ich aus Kontakten wirkliche Begegnungen? Wirkliche Beziehungen? Dazu hat er viele Anregungen und Tipps.

Vieles davon kennt man entweder durch eigene Lebenserfahrung oder aus diversen Ratgeberbüchern. Trotzdem gut, daran erinnert zu werden. Richtig spannend wird das Buch im dritten Kapitel, wo öffentliche Räume in praller Lebendigkeit ausgemalt und fantasiert werden. Für ihn sind das die „Dritten Orte“, wo öffentliches und privates Leben sich treffen und durchmischen.

Ginge es nach Helmut Saiger, dann würden unsere Innenstädte nicht aus Kommerz bestehen, aus Fußgängerzonen voller Werbung und ohne bequeme Bänke, als reine Laufstrecken des Konsums. Er wünscht sich öffentliche Plätze mit Sitzgelegenheiten, großen Tischen, mit Leinwänden, auf denen Nachrichten der Stadt und Aktivitätsangebote zu lesen sind und Kopfhörer-Anschlüsse an den Stühlen, um Musik zu hören. Auf diesen Plätzen finden sich Anlaufstellen für alle Fragen des Lebens – Freiwilligenagentur, Tauschbüros, Mitwohnzentrale, Selbsthilfegruppen und dazwischen eine Bühne, auf der Diskussionen, Lesungen oder das Konzert einer Nachwuchsband erlebt werden können.

Auf solch einem Platz kann der Wochenmarkt sein, der Antikmarkt oder das Public Viewing von Sport-Ereignissen. Sogar Obdachlose oder Junkies sollen dort ihre Ecke haben, wo sie sich ohne Anfeindungen treffen können. Auch eine Bahn fürs Boulespielen oder ein Feld für Jugendliche, um Beachvolleyball zu spielen oder zu skaten sind für Helmut Saiger an solch einem dritten Ort notwendig und denkbar.

Spielen, sich unterhalten, diskutieren, sogar flirten – alles kann dort passieren. Eine Champagner-Bar, Tango-Musik zum Tanzen, eine kleine Tischampel, die signalisiert, ob man Kontakt möchte – das alles lässt Menschen Spaß miteinander haben und sich besser kennenlernen. Man muss sich nur trauen, meint er. Und solche Mutproben können uns alle in diesen schwierigen Monaten zum Trainingsprogramm werden. „Ohne Vertrauen in andere geht es nicht“, sagt er. „Mit zu viel Vorsichtsverhalten entsteht ein mageres Kontakterlebnis.“ Er schlägt vor, es richtig zu üben, sich zu blamieren. Zweimal in der Woche auszuprobieren, was passiert, wenn man etwas ganz anderes als üblich tut und auch daran scheitern darf. Das macht zuerst Angst, aber dann verschafft es neue Freiheiten.

Im Internet ist die bunte Vielfalt von Diskussions- und Aktionsfeldern längst zu finden. Aber vor dem Bildschirm verkürzt sich nicht nur die Muskulatur. Auch die sozialen Antennen werden eingefahren und die Fähigkeit, miteinander zu interagieren, reduziert sich dramatisch. Die vielgeschmähten „Nerds“ und „Incels“ sind uns warnende Beispiele dafür.

Wir müssen eine „Tätigkeitsgesellschaft“ werden, meint deshalb Helmut Saiger. Miteinander etwas gestalten, lernen, tun. Die Rolle des Konsumenten verarmt uns alle. „Wir haben den Hintergrund zum Vordergrund des Lebens gemacht. Bricht die Kulisse zusammen, brechen auch das persönliche Selbstwertgefühl und manche sozialen Kontakte zusammen.“ Für den Autor ist die wichtigste Aufgabe gerade in unserer Zeit, sich Momente von guten Gefühlen zu suchen. Glück ist nicht zu kaufen, Glück ist etwas zum Erleben. Die Bereicherung des sozialen Umfeldes durch viele wesentliche Kontakte ist für ihn ein sicherer Weg, im eigenen Leben zufriedener zu sein.

Nicht alles ist neu, nicht alles ist originell, was wir in diesem Buch lesen, aber es ruft uns in Erinnerung, worum es geht. Die Wiederbelebung der sozialen Umwelt ist für ihn neben der ökologischen Transformation die zweite wichtige Zukunftsaufgabe in unserer Zeit. „Wir sind, was den Zusammenhalt angeht, zum Entwicklungsland geworden.“ Krisen wie die, die wir aktuell erleben, lassen die Armut an sozialen Netzen dann für viele zur Katastrophe werden. Eine neue Kontaktgesellschaft hingegen gibt uns – so meint er – Hoffnung auf eine Zukunft, in der wir nicht nur die knapper werdenden Ressourcen bewältigen, sondern auch die Menschlichkeit neu erfinden könnten.

Das Buch gibt uns auch Instrumente für den Baukasten für eine „Age friendly City“, wie die WHO sie empfiehlt und auch die Grünen anstreben. So geht lebendige Stadt! Ältere werden einbezogen, gesehen, angesprochen. Sie finden in dieser Kontaktgesellschaft Gelegenheit, aktiv zu bleiben, kurze Wege zu anregenden oder hilfreichen Adressen zu entdecken und ihren Alltag anzureichern. Eine Stadt der Bürger und Bürgerinnen – nicht nur der Konsumenten.

Ein zusätzliches Debattenfenster für solche Korrekturen wird aktuell durch die Verödung der Innenstädte aufgestoßen, die durch die Corona-Flaute offenbar ans Ende ihres Geschäftsmodells gelangt sind. Mehr Wohnungen, mehr Kontaktmöglichkeiten, mehr menschliches Maß und Mitte stehen auf der Tagesordnung der Stadtplaner. Durch Helmut Saiger werden solche abstrakten Pläne lustvoll koloriert. Wir sollten ihn noch einmal zu Wort kommen lassen und das Buch nicht deswegen wieder ins Regal zurückstellen, weil es nicht mehr ganz frisch ist. Gute Ideen müssen wir warm halten.

Eine interessante persönliche Wende zu seinen gesellschaftlichen Visionen formulierte der Autor allerdings kürzlich selbst, als wir noch einmal telefonierten. Er habe sich mit seinen 73 Jahren inzwischen von der öffentlichen Debatte und all den Marktplätzen des urbanen Lebens zurückgezogen. Es sei genug, meinte er. Es gäbe die Neigung, soziale Beziehungen zu idealisieren und Glück allein durch Freunde, Familie und Kontakte zu propagieren. Das Alleinsein werde dadurch als defizitär empfunden. Ein Irrtum – für ihn. Wem es gelänge, Glück in kreativen Tätigkeiten zu erleben, der würde sich frei und autonom fühlen und gern auf soziale Kontakte verzichten. Sie brächten ja immer auch Konflikte, Ego-Spiele und endlose Diskussionen. Damit sei es für ihn nun genug. Er klang sehr einverstanden damit.

überarbeitete Auflage des Buches:

Die Kontaktgesellschaft Für ein neues Miteinander und Zusammenhalt, Freiburg, 2018 Taschenbuch 7,90 €, E-Book 2,99 €

Hier erhältlich: amazon.de/Die-Kontakt-Gesellschaft-Helmut-Saiger/dp/1976991951

Mehr Infos zum Autor: https://helmutsaiger.wordpress.com/

 

hier der ganzen Artikel als Doc:    Saiger Kontaktgesellschaft Mai 2021

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Ein Kommentar

  1. Viele gute Anregungen, wichtige Gedanken für die Stadtplanung, die gerade sehr aktuell sind. Nur die Schlussüberlegungen empfinde ich ein wenig als Rolle rückwärts der eigenen Ideen. Er sagt, es gäbe die Neigung, soziale Beziehungen zu idealisieren – vorher hat er die Wichtigkeit der sozialen Beziehungen immer wieder betont. Klar kann Alleinsein bereichernd sein, allein sein heißt ja nicht einsam sein. Für mich ist das kein Widerspruch – aber vielleicht war das für ihn lange anders. Danke für den Tipp und die schöne Zusammenfassung!