Bern – traditionsreich und generationengerecht in die Zukunft

Die Ausstellung läuft noch bis 2021
Eine Age friendly City (AfC) und noch mehr
Text und Fotos: Gabriele Heise

Wer mit dem Zug in der Hauptstadt der Schweiz ankommt, wird schon beim Verlassen des Bahnhofs verwundert schauen: Ein großer Platz liegt vor der gläsernen Front, nur schmale Spuren sind für den Autoverkehr abgetrennt, der Rest ein Fußgängerparadies. Gut erreichbar auf der anderen Seite des Vorplatzes unter einem hohen geschwungenen Glasdach die Straßenbahn- und Bushaltestellen. Rundherum stehen in ehrwürdigem Graugrün die Bürgerhäuser und Kirchen der Altstadt von Bern. Weltkulturerbe, aber trotzdem ganz vorne, wenn es um Lebensqualität und Bürgersinn geht.

In dieser Stadt herrscht ein anderer Geist als wir ihn in unseren Großstädten noch überwiegend finden: Menschen zuerst! Und: Ältere Menschen besonders zuerst!

Evelyn Hunziker vom Kompetenzzentrum Alter
Bern ist eine gewachsene Stadt mit vielen historischen Gebäuden

Im Berner Generationenhaus gleich rechts am Platz ist eine Ausstellung zu sehen, die das Thema  anschaulich mit Leben füllt. „Forever young. Willkommen im langen Leben“ – mit einem multimedialen Rundgang und einem vielfältigen Veranstaltungsprogramm wird eingeladen zum Dialog über unser Altwerden – zwischen Selbstbestimmung und Solidarität, medizinischen Möglichkeiten und ethischen Grenzen, Altersweisheit und Jugendwahn. Die Lebenserwartung hat sich im letzten Jahrhundert verdoppelt. Doch welche Hoffnungen und Ängste verbinden wir damit? Wie gehen wir damit um?

Dieses Thema wird in Bern jedoch nicht hinter historische Mauern gesperrt – es prägt das gesamte Bild der Stadt. Dafür sorgen unter anderem vier Akteurinnen im „Kompetenzzentrum Alter“, gleich um die Ecke in der Bundesgasse, an der Spitze seit diesem Jahr Evelyn Hunziker.

Seit 20 Jahren gibt es diese Adresse nicht weit vom Parlamentsgebäude. Auch deshalb ist Bern gut vorbereitet auf die demographische Herausforderung der kommenden Jahrzehnte. Das landesweite „Netzwerk Altersfreundliche Städte“, eine gut eingeführte kommunale Kooperation, wird hiermit geknüpft. Auch die Idee der „Nachbarschaftshilfe Bern“ entstand hier und nun auch das alles übergreifende Konzept der „Age friendly City“. In der Schweiz kann nur Genf noch mit diesem Label der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufwarten – Luzern will aber bald aufschließen.

Die Bundesgasse in Bern
Die Straßen sind verkehrsberuhigt

Von den rund 143.000 Einwohnern in Bern sind 30.000 Menschen, also 17 Prozent, über 60 Jahre alt. Bei uns liegen die Prozentzahlen der Senioren meist weit höher. Die Erklärung für den Unterschied liegt in der Raumplanung. Vor einigen Jahrzehnten förderte die Politik junge Familien verstärkt beim Wegzug ins Umland von Bern. Dort bauten sie ihr Haus, dort werden sie jetzt auch alt. Nur wenige blieben.  Aber viele kommen jetzt doch zurück, denn die Stadt hat eine hohe Lebensqualität.

Das eindrucksvollste Ergebnis dafür bietet die Verkehrsplanung: Die Altstadt von Bern ist fast völlig vom Individualverkehr befreit. Tritt man aus dem Gebäude der „Kompetenzstelle Alter“  und schaut nach rechts und links, dann scheint hier ständig ein „autofreier Sonntag“ zu herrschen.

Sinnfällig wird diese kommunale Fürsorge auch in kleinen Details des Stadtbildes. Die Haltestellen von Bus und Bahn haben erhöhte Gehsteige, um leichter mit Rollator, Rollstuhl, Kinderwagen oder Einkaufstrolleys einsteigen zu können. Und sie bekamen Sitzgelegenheiten. Geholfen hat dabei, dass es in der Schweiz ein Behinderten-Gleichstellungsgesetz gibt, das vorschreibt, dass bis 2023 auch Leute mit Einschränkungen den ÖPNV autonom benutzen können.

Altersfreundliche Bank, Foto: Pia Neuenschwander

Außerdem haben die Planer über die Wege zu den Haltestellen gründlich nachgedacht. Es wurden Kantsteine abgesenkt, Ampelanlagen angepasst, Bodenbeläge verbessert, Profile im Pflaster eingearbeitet, damit mit dem Blindenstock oder dem Rollstuhl Orientierung möglich ist – und vieles mehr.

Mal eben verschnaufen – das ist gerade für ältere Menschen ein großes Bedürfnis bei den Gängen durch die Stadt. Die 2.800 Bänke in Bern sollen deshalb bis 2035  hindernisfrei und ergonomisch altengerecht umgebaut sein. Ihre Armlehnen und steilen Rückenlehnen helfen dabei, gut wieder aufstehen zu können.

Gratis Toiletten in Restaurants – eine Idee aus Deutschland

Und wenn sich beim Einkaufen ein dringendes Bedürfnis meldet? 14 Restaurants informieren mit einem roten Label an der Tür darüber, dass hier die Toiletten gratis und ohne Verzehrzwang  benutzt werden können. Die Wirte erhalten 1000 Franken im Jahr für den zusätzlichen Aufwand und ergänzen dafür gern die 38 öffentlichen Toiletten in der Stadt. Ein Plan mit den Standorten der „Netten Toiletten“ liegt in vielen öffentlichen Gebäuden aus. Die Idee wurde übrigens aus Deutschland importiert – merkwürdig, dass sie nicht bis nach Hamburg gekommen ist.

Treppenlift zum Bundeshaus

An den Treppen zur Aussichtsplattform des Bundeshauses, vergleichbar mit dem Reichstag in Berlin, wurden Treppenlifte anmontiert. Nun hat jede und jeder Zugang, wenn die Beine nicht mehr machen, was sie sollen.

Um den öffentlichen Raum wieder belebter zu gestalten, stehen seit 2016 mobile Bistrostühle und -tische in der Innenstadt  – zunächst auf dem Münsterplatz, dann auf dem Unteren Waisenhausplatz, schließlich auf 12 weiteren Standorten im Stadtkern. Die 188 Stühle und 42 Tische werden gern genutzt, kein Möbelstück kam abhanden. Auch in den Parks stehen inzwischen 460 mobile Stühle. Man sitzt gern beisammen dort.

Mobile Bistrostühle

Doch der Umbau der urbanen Landschaft ist nicht immer so einfach wie im Fall der öffentlichen Möblierung. Bern ist eine alte, gewachsene Stadt mit vielen Winkeln und Stufen. Über 70 Prozent der Gebäude sind geschützt. Da ist eine Veränderung immer mit vielen Einwänden der Denkmalschützer verbunden. So ziehen die historischen Laubengänge in der Innenstadt  viele Kunden an. Laden dicht an Laden – das bringt kurze Wege.

Es macht Freude, hier unterwegs zu sein. Doch der Zugang ist für manche schwierig.

Aber die Stadt will in den nächsten Jahren den ganzen öffentlichen Raum hindernisfrei machen. Dafür sind bis 2035 Summen im dreistelligen Millionenbereich eingeplant.

Die Tiefbau-Abteilung ist deshalb in ständigem Gespräch mit der „Kompetenzstelle Alter“ und ihren vier Mitarbeiterinnen. Inzwischen werden alle Pläne vorab besprochen – nicht erst die Beschwerden hinterher. Eine nächste Streitfrage liegt schon auf dem Tisch, sagt Evelyn Hunziker: „Bern will Velo-Hauptstadt werden und Velo und ältere Personen – das hat einfach ein Konfliktpotential.“

Kramgasse

Doch was sie inzwischen noch viel wichtiger findet: „Die Befragungen der letzten Jahre zeigen, dass wir uns nicht immer auf das Technische konzentrieren dürfen. Wichtiger ist es, eine neue Kultur im Umgang, im gegenseitigen Kümmern zu entwickeln.“

Auch in diesem Bereich ist Bern vorbildlich. Immer wieder wurden BewohnerInnen über 60 nach ihren Wünschen gefragt. Vor allem die Belebung der Quartiere rückte dadurch in den Mittelpunkt. Die älteren Menschen wollen ja so lange wie möglich in Ihrem Umfeld bleiben.

Die „Nachbarschaftshilfe Bern“ entstand, ein Programm, das ebenfalls zur Age friendly City gehört. Die Stadt Bern unterstützt dabei Projekte für drei Jahre jährlich mit einer  Anschubfinanzierung in Höhe von 250.000 Franken. Danach müssen sie es selber schaffen.  Das gab den Startschuss. Flyer wurden gezielt an ältere Bewohner des Quartiers verteilt und ihre Meinung eingeholt. „Ich interessiere mich für Unterstützung“ oder „Ich möchte Unterstützung leisten“ konnte man ankreuzen. Auch präzise Wünsche wurden abgefragt, z.B.: „Kleinere Reparaturen“, „Nachhilfe“, „Wohnung und Pflanzen betreuen“, „Computer-Support“ u.a.m..

Laubengang in der Innenstadt

Daraus wuchs ein kluges Konzept zur Quartiersarbeit. Zwei Sozialarbeiterinnen besuchten Hilfesuchende und Hilfeanbietende und kombinierten in persönlichen Gesprächen, wer wem wie helfen könnte. Es wird darauf geachtet, dass beide Parteien maximal 15 Gehminuten voneinander entfernt wohnen. Vermittelt werden vielfältige Unterstützungen (wie z.B. Spaziergänge, Einkaufen, Pflanzen gießen, Gesellschaft leisten, Vorlesen, Begleitung zum Arzt etc.), die im Rahmen von maximal drei Stunden wöchentlich geleistet werden und keiner Vorkenntnisse bedürfen. Das Angebot ist kostenlos. Der Kontakt zu den Freiwilligen wird gepflegt: Dreimal im Jahr bekommen sie eine Einladung der Stadt zu einer Schulung, z.B. auch zum Thema „Umgang am Lebensende“, denn viele Quartiersbewohner*innen sind ja älter.  Diese Treffen werden gemütlich gestaltet – „mit einem kleinen Apero“, wie Evelyn Hunziker es nennt.

Auch gibt es eine Job-Börse im Generationenhaus: Schüler*innen können ihr Taschengeld aufbessern, indem sie bei älteren Menschen z.B. Fenster putzen oder Rasen mähen.

Einmal in der Woche wird in einem Café des Quartiers eine kleine Sprechstunde angeboten, um zu klären, ob alles gut läuft.

Außerdem entstand in einigen Quartieren eine Zeitung. Darin sind Reportagen, Infos zum Quartier und Termine. Die Quartierszeitungen finanzieren sich durch Werbung der lokalen Geschäfte inzwischen selbst – je nachdem, wie professionell sie gestaltet werden.

Evelyn Hunziker sieht in diesem Nachbarschaftsnetzwerk das Herzstück einer Age friendly City: „Wir haben sehr viele junge Menschen, die Unterstützung geben wollen. Es ist wirklich ein Generationenprojekt. Und es gibt zwei Erfolgsfaktoren. Der eine ist, dass wir sagen: Nicht mehr als drei Stunden die Woche. Und der andere ist, dass da zwei Frauen unterwegs sind, die einfach begeistern können und das betreuen. Wir haben jetzt fünf Stadtteile im Programm, der sechste wird im Sommer aufgenommen und nächstes Jahr haben wir die ganze Stadt.“

Was nicht gut geklappt hat, ist das Konzept des Wohnungstausches. Viele Ältere leben in zu großen Wohnungen, möchten sich verkleinern und preiswerter leben. Wenn man aber Angebote gemacht hat, kamen dann doch Einwände: „Ich brauche vielleicht noch ein Zimmer für meine Enkel…“ .

An der Barrierefreiheit wird noch gearbeitet

Auch das Programm „Wohnung für Hilfe“ klappte nicht: Den Kühlschrank und das Bad zu teilen ging vielen Älteren zu weit. Sie wollten auch keine Fremden in die Wohnung lassen. Nun wurde diese Idee aufgegeben. „Es sind ja schließlich Steuermittel, die wir da investiert haben,“ sagt Evelyn Hunziker.

Der nächste Schritt in der Quartiersarbeit betrifft nun neue Bauprojekte: „Wir möchten Generationenwohnen einführen“, sagt Evelyn Hunziker. „Und es muss Begegnungsorte geben, also dass man in großen Häusern Räume hat, wo man sich treffen kann.“

Das Age-friendly City-Konzept wurde inzwischen ergänzt. Jüngster Baustein: Die „Caring Community“. Sie ist nun Altersleitbild des Kantons Bern. Gemeint ist damit eine sorgende Gemeinschaft als Gegentrend zur anonymen Gesellschaft. Man hilft einander, sorgt füreinander, fördert die Inklusion der Vergessenen. Die Realisierung erfolgt durch das „Kompetenzzentrum Alter“ der Stadt Bern mit Unterstützung verschiedener Partnerorganisationen. An diesem Ziel kommt auch der Gemeinderat nicht mehr vorbei.

Das übergreifende WHO-Label einer Age-friendly City führt dazu, dass Belange der älteren Bürger von der Stadtverwaltung in allen Abteilungen und Ämtern ernst genommen werden. Es gibt schon lange einen Seniorenrat als beratende Kommission des Gemeinderats.  Er ist Teil des parlamentarischen Systems, berät und kontrolliert die Stadtverwaltung und wirkt als Sprachrohr. Die Mitglieder bekommen Sitzungsgeld. Wenn es irgendein Thema gibt, dann wird gefragt: Was hat der Seniorenrat dazu gemeint?

Auch dieser Seniorenrat fördert das Programm der AfC. Es gibt kein Gerangel um die Mitspracherechte bei der Gestaltung einer traditionsbewussten Stadt wie Bern auf dem Weg in die Zukunft.

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